Nach dem Mitlesen von vielen Beiträgen und Diskussionen in Living History (LH)-Foren weiß ich inzwischen, dass es auch in der authentizitäts-orientierten Living-History-Szene langwierige Diskussionen dazu gibt, was den A (= authentisch) und was nicht A ist, z.B. unter folgendem Link zum Thema, ob es lederne Armschienen gab und ob Leinen als Oberbekleidungsstoff verwendet wurde: https://www.tempus-vivit.net/taverne/thema/Lederarmschienen-welche-Epoche
(Bild: Marco Breiling nach einer Vorlage aus dem Internet)
Was ich (von Beruf wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich IuK) dabei gelernt habe: Geschichtswissenschaft ist keine exakte Wissenschaft* - zumindest nicht für das Frühmittelalter. Tatsächlich scheinen sich Forschungsstände im Laufe der Jahrzehnte nicht nur weiterzuentwickeln (zum Wissen "X" kommt "Y" dazu) sondern auch zu ändern ("X" gilt nicht mehr, stattdessen gilt jetzt "Y"). Interpretation spielt dabei eine sehr große Rolle. Insofern gibt es immer drei Kategorien: gewisse Annahmen sind zweifelsfrei durch Funde bzw. Quellen belegt, andere Theorien können durch irgendwelches Hintergrundwissen ausgeschlossen werden (z.B. dass im Frühmittelalter Kartoffeln angebaut wurden) und die allergrößte Kategorie: man weiß es nicht und muss die vorhandenen Quellen nachvollziehbar interpretieren. Letzteres ist sogar der Regelfall bei Funden bzw. Quellen: war der archäologische Fund bzw. der in einem Buch abgebildete Gegenstand ein Luxusgut oder ein Alltagsding? Schreibt der Chronist die Wahrheit oder übertreibt er, um dem König zu schmeicheln?
Wie sollte also der HL'ler seine Kleidung und Ausrüstung wählen? Wenn man längliche Diskussionen mit sehr strengen LH'lern vermeiden will, dann kann man sich einfach der aktuellen Lehrmeinung anschließen (selbst wenn diese sich im Laufe der Zeit immer mal wieder ändert). Oder man nimmt sich die Freiheit, Dinge anders oder etwas breiter zu interpretieren als der aktuelle Stand der Forschung. Der "gesunde Menschenverstand" kann aber schnell zu besagten länglichen Diskussionen führen, weil in der Wissenschaft und bei vielen LH'lern nur belegte Dinge und zugehörige "eng begründete" Interpretationen anerkannt werden.** Aber da HL ja ein Hobby ist, ist es jedem überlassen, wie er damit umgeht. Ich selbst stehe einer auf "gesundem Menschenverstand" basierenden Interpretation offen gegenüber: wenn die Existenz eines Gegenstands oder einer gewissen Variante naheliegt (z.B. weil er im Alltag nützlich ist) und er technisch sowie vom damaligen Wissen her herstellbar ist, dann wird es ihn vermutlich auch bei dem ein oder anderen Franken gegeben haben. Auch damals lebten im Fränkischen Reich mehrere Millionen Menschen, die sicher ab und zu mal was Neues ausprobierten (oder aus der Not heraus ausprobieren mussten). Ein spezieller Gegenstand bzw. dessen Variante war dann vielleicht nicht Mainstream, aber das heißt noch lange nicht, dass er unauthentisch ist (also dass es ihn in der betroffenen Zeit und Region gar nicht gab). Dies ist auch der Grund z.B. für für die Verwendung des Kreuzstichs auf meiner Kleidung (obwohl diese Stichform angeblich erst viel später erfunden wurde) und für meinen elliptisch gewölbten Schild.
Ich verwende daher statt "authentisch" lieber die Begriffe "musealer Anspruch" (d.h. sehr gut belegt und ohne große Interpretationszweifel) oder "realistisch" (im Sinne der Wörterbuch-Definition "lebensecht und wirklichkeitsnah", d.h. durchaus wahrscheinlich, dass es so wahr). Mein persönlicher Anspruch ist dabei realistisch.
Ein anderer Aspekt sind Aufwand und Kosten: Ich möchte zwar meinen Charakter möglichst authentisch gestalten, aber ich möchte die dafür eingesetzte Zeit und das benötigte Geld nicht ausufern lassen. Mir ist klar, dass das ein Kompromiss ist, der mich im Authentizitätsspektrum irgendwo in der Mitte hält. Es gibt durchaus LH’ler, die unheimlich viel Zeit und Geld in ihr Hobby stecken (sowohl für die Beschäftigung mit der Geschichte und Archäologie wie auch für die Herstellung von Ausrüstung bzw. die Beauftragung von Schmieden etc.). Aber es wird wohl fast niemanden geben, der nicht den ein oder anderen Kompromiss eingeht (z.B. bei den Stiefeln, beim Zelt etc.).
(Bild: Marco Breiling)
Aller Anfang ist schwer.
Am wichtigsten für alle Einsteiger: fangt erst einmal an, sogar wenn Eure Darstellung nicht perfekt und nicht 100% authentisch (noch nicht einmal "realistisch") ist. Das wichtigste dabei ist, dass Eure Darstellung Euch gefällt und Ihr motiviert seid. Und dann entwickelt Eure Darstellung einfach im Laufe der Jahre weiter. Nehmt einfach alle Infos von dieser Seite, die Euch helfen, aber seht die Seite nicht als Zwangsgerüst – wenn Ihr (aus Geld-, Zeit- oder Lustgründen) etwas an Eurer Ausrüstung einfacher oder anders machen wollt (z.B. normale LARP-Schwertscheide statt karolingischem Wehrgehänge), dann ist das auch okay. Informiert Euch im Internet oder der Literatur, diskutiert mit LH'lern und HL'lern und bildet Euch Eure eigene Meinung. Steckt erst mal nicht so viel Geld in Ausrüstungsgegenstände, von denen Ihr nicht wisst, wie authentisch sie sind, denn Ihr werdet sie ggf. später (mit besserem Wissen) wieder aussortieren. Oder lasst Euch von erfahrenen LH'lern / HL'lern beraten und legt Euch erst mal eine authentische Grundausrüstung fest, für die Ihr mehr Geld investiert, und erweitert diese erst später.
* In der E-Technik kann man in der Regel eine Aussage belegen, oder man kann sie widerlegen. Das Belegen klappt auch in der Geschichtswissenschaft des Frühmittelalters, aber das Widerlegen ist wegen dürftiger Fundlage sehr schwer.
** Auf heute übertragen bedeutet das z.B. folgendes: welches Bild würden Geschichtswissenschaftler des Jahres 3200 vom heutigen Mitteleuropa gewinnen, falls nur ein paar Hundert oder Tausend Schriftquellen, Bildquellen und archäologische Funde die Zeit überdauern? Würden sie annehmen, dass es Kunstlederjacken gab, selbst wenn keine solchen überliefert sind, wenn wohl aber Kunstlederschuhe gefunden wurden? Nach der engen wissenschaftlichen Interpretation müssten Kunstlederjacken für das Jahr 2021 als "unauthentisch" eingestuft werden... Und nur mal als Vergleich: wieviele (Primär- und Sekundär-) Quellen/Belege gibt es für Tuniken, Schwerter etc. aus dem Ostteil des Frankenreiches zwischen 750 und 850? Vermutlich z.B. deutlich weniger als 100 Tuniken (laut einer Diskussion in der Facebook-Gruppe "Historisch belegte Männerkleidung des Frühmittelalters"). Aber wie groß ist die Grundgesamtheit von fränkischen Tuniken aus dieser Zeit, d.h. wieviele Tuniken wurden insgesamt von den ca. 2 Millionen Einwohnern im Osten des Frankenreiches in diesen 100 Jahren hergestellt und getragen? Vermutlich weit mehr als 20 Millionen. D.h. die Aussagekraft der vorhandenen Stichprobe (gefundene, beschriebene oder abgebildete Tuniken) ist außerordentlich begrenzt für die zugrundeliegende Grundgesamtheit von verwendeten Tuniken - man kann nicht annehmen, dass sie repräsentativ ist.
Was Statistik in der Archäologie / Geschichtswissenschaft angeht, habe ich folgende Arbeit gefunden, die ganz interessant aussieht: https://frank-siegmund.de/images/pdfs/Siegmund-F_2020_ArchaeoStatistik_PrePrint.pdf. Insbesondere Kapitel "25.3 SAXE:BEISPIEL FÜR EINE METRISCHGESTÜTZTE TYPOLOGIE" zeigt mir, wie stark variiert die Fundlage ist, und dass man aufgrund dieser wenig ausgeprägten statistischen Abhängigkeiten und des geringen Stichzahlumfangs wohl kaum ausschließen könnte, das Saxe mit ganz anderen Metriken damals genauso existierten.